„Ethnizität“ – vom Nutzen und den Grenzen eines Konzepts. Doktorandenkolloquium der Studienstiftung des deutschen Volkes

„Ethnizität“ – vom Nutzen und den Grenzen eines Konzepts. Doktorandenkolloquium der Studienstiftung des deutschen Volkes

Veranstalter
Studienstiftung des deutschen Volkes
Veranstaltungsort
Internationales Kolleg Morphomata, Weyertal 59, Rückgebäude, 50937 Köln
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.01.2013 - 26.01.2013
Website
Von
Heinert, Felix

„Ethnizität“ wird häufig essentialistisch verstanden als eine gegebene Eigenart bestimmter Bevölkerungsgruppen, die für die Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und mitunter gewaltsamer Konflikte relevant ist. „Ethnizität“ besitzt jedoch einen imaginierten und konstruierten Charakter ähnlich wie „Nationalität“, d. h. auch „ethnische Gruppen“ sind als imagined communities zu denken. Trotz ihres imaginierten und konstruierten Charakters kann „Ethnizität“ geschichtsmächtig werden und höchst reale Züge annehmen, wenn sie für eine kritische Masse von Menschen handlungsleitende Relevanz gewinnt und damit eine eigenständige Wirkungsmacht entfaltet.

„Ethnizität“ ist allerdings nicht nur ein für historische Analysen relevantes Phänomen, sondern auch Untersuchungsgegenstand anderer Disziplinen (z. B. Politikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Ethnologie oder Soziologie). Das Doktorandenkolloquium richtet sich demzufolge an eine interdisziplinäre Zielgruppe. Mögliche Problemfelder von „Ethnizität“, die dabei zur Diskussion stehen sollen, sind:

(1) „Ethnizität“ als konzeptionell-analytisches Problemfeld
- Welches analytische Potential besitzt die Kategorie „Ethnizität“? Ist sie ein Explanans oder Explanandum? Können diese beiden Aspekte in der Empirie immer voneinander sauber getrennt werden? Inwiefern und wann können wir „Ethnizität“ folglich zur Erklärung historischer Prozesse heranziehen? Oder sollten wir nicht vielmehr Ethnizität selbst als ein historisch zu erklärendes und stets fallbezogen abzuleitendes Phänomen betrachten? Was wird durch Vorstellungen von „Ethnizität“ verschleiert, und mit welcher Intention geschieht dies unter Umständen?

- Gibt es Alternativen zum Konzept der „Ethnizität“? Sollten Vorstellungen von Ethnizität konsequent dekonstruiert und durch enger gefasste Begriffe (z. B. Sprache, Konfession etc.) ersetzt werden, deren Tragfähigkeit von Fall zu Fall zu prüfen ist? Welcher analytische Mehrwert kann durch einen solcherart differenzierten Begriffs-apparat generiert werden?

- Lässt sich Geschichte ohne „Ethnizität“ schreiben? Welche narrativen Techniken und Verfahrensweisen stehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zur Verfügung, die konsequent gegen sprachlich griffige, aber analytisch fragwürdige, ethnische „Gruppismen“ (Rogers Brubaker) anschreiben? Können Sozial- und Kulturwissen-schaften mit einem Weniger an Ethnizität auskommen? Oder ist es mitunter (und wenn ja, wann bzw. in welchen narrativen Situationen) unumgänglich, mit dem Konzept „Ethnizität“ zu arbeiten, gleichwohl aber beständig den konstruierten bzw. imaginierten Charakter dieses Konzepts mitzudenken und zu verdeutlichen?

(2) „Ethnizität“ als historisch-semantisches Problemfeld
- Wie ist „Ethnizität“ zu historisieren? Ab wann und in welchen diskursiven Zusammen-hängen spricht man von „Ethnizität“, „ethnischen“ Charakteristika, „Ethnien“ etc.? Handelt es sich dabei um Selbst- oder Fremdzuschreibungen „ethnischer“ Eigenart? Wie verhält sich der Begriff zu alternativen Bezeichnungen (wie z. B. dt. Volkstum oder engl. race) und ihren jeweiligen semantischen (Um-)Feldern?

- Wie wird Ethnizität gedacht? Welche Merkmale, Wahrnehmungen und Rahmen-bedingungen waren und sind prägend für Vorstellungen von Ethnos und Ethnizität? Wenn es so etwas wie eine „ethnische“ Selbst- und Fremdverortung gibt, wie verhält sich diese zu anderen Bezugsebenen (z. B. Staatsbürgerschaft, Konfession, Klasse, Gender, Imperium, räumliche Bezüge wie Region, Stadt, Dorf, Straßenzug etc.)? Wer und mit welchen Mitteln (Wissenskategorien, Herrschaftstechniken, Durchsetzungs-strategien, Archivierungspolitiken etc.) definiert und klassifiziert ethnisch konstruierte Gruppen (z. B. Statistik, Ethnografie etc.)?

(3) „Ethnizität“ als wissenschaftlich-normatives Problemfeld
- Ist ethnische Vielfalt typisch osteuropäisch? Gemeinhin wird das östliche Europa pauschal als eine Region ethnischer Gemengelage, multiethnischer Imperien und einer späten, von ethnischen Konflikten und Gewalt begleiteten Nationsbildung beschrieben. Doch lässt sich die These von der Besonderheit eines von ethnischer Vielfalt geprägten östlichen Europas empirisch aufrechterhalten? Waren nicht auch in anderen Regionen Europas sowie der Welt vergleichbare Prozesse einer Ethnisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und Konflikte zu beobachten?

- Welche Kontextfaktoren begünstigen ein tendenziell „positiv“ oder „negativ“ konnotiertes Verständnis von „Ethnizität“? „Ethnizität“ wird im Hinblick auf die Vorstellung und Möglichkeit der Pflege eines positiven Bewusstseins „ethnischer“ Gruppen oftmals als erstrebenswertes Ideal für multikulturelle Gesellschaften betrachtet. Inwiefern konnte sich in manchen “Kultur“- bzw. Diskursräumen (z. B. Osteuropa oder USA) ein unterschiedlich konnotiertes Verständnis von „Ethnizität“ herausbilden? Oder weist eine „positive“ oder „negative“ Konnotation von „Ethnizität“ nicht vielmehr auf die politisch-normative Aufladung und deren Einflussnahme auf sozialwissenschaftliche und historiographische Traditionen hin, die bei der Nutzbarmachung des Konzepts stärker zu hinterfragen sind?

Ausgehend von diesen Problemfeldern wollen wir anhand konzeptioneller und empirischer Beiträge einerseits die Nutzbarmachung von „Ethnizität“ als Konzept und andererseits dessen Grenzen diskutieren.

Programm

Programm

Freitag, 25.01.2013

ab 13:00 Anreise

13:45–14:00 Begrüßung und Vorstellung
Ingo Eser (Köln), Felix Heinert (Köln), Sarah Panter (Freiburg)

14:00–14:30 Eingangsüberlegungen
Felix Heinert
„Ethnicity talk“. Ausgangsüberlegungen und Selbstverortung

Ingo Eser
Irrwege des Ethnischen. Beobachtungen aus der geschichtswissenschaftlichen Praxis

14:30–15:15 Joachim Hösler (Marburg)
Identität und Ethnizität. Erkenntniskategorien oder Blindmacher?

15:15–15:30 Kaffeepause

15:30–17:00 Panel I: Doing ethnicity? Konzeptionelle Positionen und empirische Annäherungen (Kommentar: Alexander van Wickeren, Köln)

Jonas Kolb (Wien)
Soziale Praktiken und die soziologische Analyse des ‚Ethnischen‘. Potentiale und Grenzen einer praxistheoretischen Forschungsperspektive am Beispiel slowenischsprachiger Jugendlicher in Kärnten/Koroška

Sabine Kiefer (München/Köln)
Doing ethnicity? „Deutsche Kultur“ in Blumenau, Südbrasilien

17:00-17:15 Kaffeepause

17:15–18:00 Till van Rahden (Montreal/Köln)
Textlektüre: Andreas Wimmer, The Making and Unmaking of Ethnic Boundaries

18:00-18:15 Kaffeepause

18:15–19:45 Panel II: Vor-/frühhistorische Perspektiven und mittelalterliche Fallstudien (Kommentar: Sarah Albiez-Wieck, Köln)

Carolin Vegvari (Cambridge)
Steinzeitethnologie – von der Evolution kultureller Gruppengrenzen

Martin Hauter (Enkenbach)
Ethnische Tradition und politische Struktur im frühen Mittelalter. Das Beispiel der Burgunder

ab 20:00
Abendessen

Samstag, 26.01.2013

9:30-11:00 Panel III: Imperiale Aushandlungen im ‚langen’ 19. Jahrhundert (Kommentar: Sarah Panter, Freiburg)

Friedemann Pestel (Freiburg)
Les mulâtres de la Restauration: Die (post-)koloniale Ethnisierung von Konfliktmustern in Frankreich durch die Erfahrung der Haitianischen Revolution (1790-1848)

Felix Heinert (Köln)
Topographien jüdischer Selbstverortungen im lokalen Raum Rigas vor 1914

11:00–11:15 Kaffeepause

11:15–12:00 Andrzej Michalczyk (Bochum)
Ist ethnische Vielfalt typisch osteuropäisch? „Ethnisch gemischte“ Grenzgebiete im östlichen und nordwestlichen Europa im Vergleich

12:00–13:15 Imbisspause

13:15–14:45 Panel IV: Konstruktionen und Aushandlungen von Alterität und Identität im 20./21. Jahrhundert (Kommentar: Sarah Panter, Freiburg)

Daniel Münzner (Rostock)
Juden wider Willen. Zuschreibungen des Jüdischen bei Kurt Hiller, Kurt Tucholsky und Egon Erwin Kisch

Verena Jain-Warden (Bonn)
Ethnische Identität in der Krise? Südafrika nach dem Ende der Apartheid

14:45–15:30
Abschlussdiskussion

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Organisation/Kontakt:
Felix Heinert
Universität zu Köln
a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne / Historisches Institut, Abteilung für Osteuropäische Geschichte
Kringsweg 6, 50931 Köln
heinertf@uni-koeln.de
Tel.: + 221 470 2445

Sarah Panter
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Historisches Seminar, Lehrstuhl für Geschichte des Romanischen Westeuropa
79085 Freiburg
sarah-panter@web.de

Dr. Ingo Eser
Universität zu Köln
Historisches Institut, Abteilung für Osteuropäische Geschichte
Kringsweg 6, 50931 Köln
ieser@uni-koeln.de
Tel.: + 221 470 5440

Kontakt

Felix Heinert

Historisches Institut der Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, D-50932 Köln

heinertf[at]uni-koeln.de


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